Buch des Monats

Dezember 2024: Anna Katharina Hahn "Der Chor"


Herausgeber: Suhrkamp Verlag ISBN 978-3-518-43160-3, Preis. 25,00 Euro

Ein weltlicher Frauenchor, ein Beziehungsgeflecht. Bei den „Cantarinen“ treffen sie sich jede Woche: Alice, Personalchefin in einem großen Stuttgarter Kaufhaus, Marie, die eine Landesstiftung für Kulturstipendiaten leitet, und die frühere Lektorin Lena, eine alte Dame voller Spottlust. Eines Tages taucht die junge, schüchterne Studentin Sophie bei der Probe auf, bald darauf schleppt Marie die eben in die Nachbarschaft gezogene alleinerziehende Cora an. Alice ist fasziniert von Sophie, die mit einer seltsamen Menagerie die Wohnung teilt – und die Verhältnisse geraten in Schwingung. Alte und neue Narben im Leben dieser Frauen machen sich bemerkbar, Bruchlinien tun sich auf, auch in den Ehen von Alice und Marie, deren enge Freundschaft aus rätselhaften Gründen zerbrochen ist. Auch im fünften Roman der Stuttgarter Autorin Anna Katharina Hahn, Jahrgang 1970, erscheinen die Halbhöhenlagen und Industrievororte, die Villen und Wildnisse ihrer Heimatstadt, die „Staffeln“ und „Stückle“ als hochaufgeladene Handlungsorte, in denen ein Geheimnis nach dem anderen sich auftut und immer eine Frage mehr sich stellt als beantwortet wird. Spiegelungen, Namensspiele, Fabelwesen und andere romantisch-märchenhafte Motive bilden die Tiefentektonik dieser Prosa, die von ganz und gar gegenwärtigen inneren und äußeren Verwerfungen erzählt.

Darmstädter Jury „Buch des Monats e.V.“, Julia Schröder

Bücher des Monats 2024

Hrsg. von Susanne Fischer, Hans- Edwin Friedrich und Stephan Opitz. Band 1/1 Gedichte 1 (1946 – 1962) 
Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar. Wallstein Verlag .ISBN 978-3-8353-5739-6, Preis. 34,00 Euro

Endlich ist er erschienen, Band 1/1 der „Oevelgönner Ausgabe“ mit „Sämtlichen Werken“ des phänomenalen Dichters Peter Rühmkorf (1929 – 2008). Er enthält alle, zum Teil bis dato noch nie veröffentlichte Gedichte, die er zwischen 1946 und 1962 geschrieben hat. Angereichert durch einen bravourös komponierten, ein Drittel des Gesamtumfangs dieses Bandes in Anspruch nehmenden Kommentarteil, lassen sich die Anfänge eines lyrischen Oeuvres entdecken beziehungsweise nachvollziehen, das ganz im Zeichen des Nachkriegs steht. Auffällig, wie streng gereimt Peter Rühmkorfs von Untergangsbildern und Aufbrauchstimmung, innerer Unruhe und Schreiblust, politischem Protest und existentiellem Pathos, zwischen Brecht‘schen und Benn’schen Einflüssen bewegende, Anfangs noch von strenger Kürze zeugende Texte daherkommen. Es ist eine Freude, an der literarischen, im Verlaufe der Zeit eine eigene, höchst originelle Stimme findenden Entwicklung eines Lyrikers teilhaben zu dürfen, der zu den ganz Großen in der deutschen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts zählt.

Darmstädter Jury „Buch des Monats e.V.“, Hajo Steinert

Erschienen im Wallstein Verlag. ISBN 978-3-8353-5619-1, Preis 48,00 Euro

Wenn ein Dichter, der bereits in sehr jungen Jahren Furore macht, eine der begabtesten Kinderbuchillustratorinnen ihrer Generation und schließlich ein von der Partei gegängelter ostdeutscher Verlagslektor mit einem beeindruckenden literarischen Werk in einen Briefwechsel eintreten, dann kann es sein, dass drei starke Persönlichkeiten aneinander vorbeischreiben. Bei Christoph Meckel und seiner Lebensgefährtin Lilo Fromm sowie dem Ostberliner Dichter Johannes Bobrowski ist das Gegenteil der Fall: Ihr Briefwechsel, der 1960 mit dem Kennenlernen einsetzt und 1965 mit Bobrowskis frühem Tod endet, ist von Neugier auf das Werk des jeweils anderen, von Respekt und großer Sympathie getragen, und die Diskussionen, die sich um Fragen der Autorschaft ebenso wie um die deutsch-deutschen Verhältnisse entspinnen, um Engagement und Rückzug, um bewunderte Kollegen und solche, die man lieber meidet, ist ein wahrer Schatz. Dass er nun gehoben wurde, vorzüglich ediert und auch mit Hilfe von Meckels Tagebüchern kommentiert, zudem versehen mit einem reichen Bildteil, ist ein großes Glück. Und eine Gelegenheit, drei außergewöhnliche Künstler, um die es zuletzt still geworden war, neu kennenzulernen.

Darmstädter Jury „Buch des Monats e.V.“, Tilman Spreckelsen

Zweisprachig. Aus dem Polnischen von Peter Oliver Loew, mit Photographien von Eugeniusz Lokajski. Secession Verlag, Berlin 2024. ISBN 978-3-96639-107-8, Preis 25,00 Euro

Der Warschauer Aufstand gegen die deutsche Besatzungsmacht von 1944, der gerade sein 80jähriges Jubiläum beging, gehört zu den großen kollektiven Traumata des polnischen Volkes und wird von Historikern verschieden beurteilt. Die nachhaltigste Geschichtsschreibung aber leistet die Literatur, weil sie ein Archiv der Gefühle eröffnet und die kalte Faktizität von Zahlen und Daten mit Erinnerung und Leben erfüllt. Nicht weniger als ein solches emotionales Archiv zu den Ereignissen von Warschau während des Aufstands, den die Autorin als Sanitäterin hautnah miterlebt hat, sind die Gedichte von Anna Świrszczyńska – in vorzüglicher Übersetzung von Peter Oliver Loew. Dabei geht es nicht um Heldenverehrung und ein Pathos des Widerstands, sondern um die seelischen Erschütterungen im Leben der Menschen, die sich immer konkret und im Alltäglichen zeigen. Die große Kunst der Gedichte besteht in ihrer Reduktion auf die vermeintlich kleinen Dinge, in denen das Große der Historie sich spiegelt und über die der Literatur-Nobelpreisträger Czeslaw Milosz schrieb: „Sowohl in der polnischen Dichtung als auch in der Weltliteratur nimmt dieser Band einen besonderen Platz ein, als poetische Reportage von einem Ereignis, das zu den großen Tragödien des 20. Jahrhunderts gehört.“ Brennend aktuell und in ihrer präzisen Bildlichkeit unvergesslich.

Darmstädter Jury „Buch des Monats e.V.“, Kurt Drawert

Erschienen im S. Fischer Verlag, ISBN 978-3-10-397520-8, Preis EUR 25,00.

Elstern sind besser als ihr Ruf, intelligent und neugierig. Eine von ihnen flattert als Schutzengel des lyrischen Ichs durch Olga Martynovas vierten Gedichtband, ist nur eines von mehreren Tieren, die in dessen Versen emblematisch werden.

Die Trauer bestimmt den Grundton des Bandes. Die 1962 nahe des heutigen St. Petersburg geborene, seit 1990 in Frankfurt am Main lebende Autorin reagiert mit diesen Gedichten auf zwei dramatische Zäsuren: auf den Tod ihres Mannes, des Dichters Oleg Jurjew, und auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.

Immer wieder richtet das sprechende Ich den Blick auf Orpheus. Der Sänger und Dichter der griechischen Mythologie, der seine verstorbene Geliebte Eurydike aus der Unterwelt zurückzuholen versucht, geht eine Symbiose mit der Geliebten ein.

Martynovas Gedichte treten in Dialoge nicht nur mit Tieren, sondern auch mit mythischen Figuren und Künstlern, deren Werke mit Brüchen, Trauer und Abschied verbunden werden, darunter Friedrich Hölderlin oder Pier Paolo Pasolini.

„Such nach dem Namen des Windes“ öffnet weite Resonanzräume. Der Band umspielt die Einsicht, dass Verlust durch nichts auszugleichen ist, dass das konzentrierte poetische Sprechen und eine Besinnung auf überlieferte literarische und mythische Kräfte Erfahrungen von Leere und Schmerz dennoch in gewisser Weise einhegen können.

Darmstädter Jury „Buch des Monats e.V.", Beate Tröger

Juli: Ronya Othmann "Vierundsiebzig"

Genozide tendieren zum Auslöschen aller Spuren eines Volks, auch der Erinnerung an den Genozid selbst. Schlagend deutlich wird das im Fall des inzwischen als Völkermord anerkannten Massakers an der hauptsächlich im Grenzgebiet von Syrien, Irak, Iran und der Türkei siedelnden religiös-ethnischen Gruppe der Jesiden durch die Fanatiker des sogenannten Islamischen Staats ab dem 3. August 2014. Obwohl in Deutschland die größte jesidische Gemeinde innerhalb der EU lebt, wissen die meisten Menschen hierzulande nur wenig über ihre Kultur und Geschichte, noch weniger über das immer noch andauernde Martyrium infolge des Völkermords, zu dem neben massenhaften Hinrichtungen die systematische Versklavung von Mädchen und Frauen sowie großflächige Vertreibungen gehörten und der nach jesidischer Zählung bereits das vierundsiebzigste Großpogrom („Ferman“) darstellt. Umso wichtiger ist ein Buch wie „Vierundsiebzig“, in dem die in Deutschland als Tochter einer Deutschen und eines kurdischen Jesiden aufgewachsene Autorin Ronya Othmann mit großer Kenntnis und stilistischer Souveränität das Ungeheuerliche dieser mittelalterlich anmutenden Gewaltorgie, dem vorläufigen Höhepunkt der jahrhundertelangen Verfolgung einer selbst nie expansionistischen Minderheit, auf journalistisch sachliche, essayistisch selbstreflexive und persönlich empathische Weise einzukreisen unternimmt. Mehrere Reisen in die Region vor, während und nach der Herrschaft des IS – stets werden nahe und fernere Verwandte besucht – bilden das strukturelle Gerüst des Buchs. Othmann porträtiert die Überlebenden und sie protokolliert den Alltag zwischen Straßenkontrollen, Misstrauen und Traumabewältigung in der nach wie vor spannungsgeladenen Sindschar-Region. Weil sie all dies auf der Grundlage ihrer Münchner Sozialisation in ergreifend direkter Perspektive tut, ist diese wenig hoffnungsvolle Langzeitreportage besonders anschlussfähig für europäische Leserinnen und Leser, die bislang vor der Komplexität der verfahrenen politischen Situation im kurdisch-türkisch-irakisch-iranisch-syrischen Grenzgebiet mit all seinen Milizen und Interessenvertretern zurückgeschreckt sind.

Darmstädter Jury „Buch des Monats e.V.", Oliver Jungen

Die Darmstädter Jury „Buch des Monats“ hat „Ein Geisterfrühstück. Divertimenti & Impressionen, Variationen & Übertragungen nebst einem Faksimile mit Gedichten des Autors“ von Wolf von Niebelschütz zum Buch des Monats Juni 2024 gewählt. Es ist in der Anderen Bibliothek, Berlin, erschienen.

 „Nirgends ein Ton von Banalität, überall eine große, begeisternde Sicherheit des Stils und des Geschmacks, überall ein weiter Horizont“ – so unzeitgeistgemäß schreibt der deutsche Besatzungssoldat Wolf von Niebelschütz 1942 über „Briefe des alten Frankreich“, herkommend aus einer „der geistvollsten und reifsten Epochen des menschlichen Geistes“. Kein „Drittes Reich“, nichts deutsch Herrenvölkisches! Herrliche altadelige Welsch-Brillanz! Und was er an den Episteln des Herzogs von La Rochefoucauld oder des Marquis von Racan lobt, exakt das kennzeichnet auch den Stil, den Geschmack, die sicher treffende Pointenmusik dieses berühmtesten unter den unberühmten deutschen Schriftstellen. Er lebte von 1913 bis 1960, war Feuilletonredakteur erst der Magdeburgischen Zeitung, dann der Rheinisch-Westfälischen Zeitung in Essen, warf sich in seiner Schriftstellerei nicht in den braun verschmutzten Hauptstrom der Zeit, sondern tauchte in die Gewässer des Rokoko und Barock, die er in zwei Romanen „Der blaue Kammerherr“ und „Die Kinder der Finsternis, phantasietoll durchpflügte. Und kam in seinen hier versammelten Divertimenti und Impressionen, glanzfunkelnden Causerien und Feuilletons zu den schönsten fremden Ufern. Huldigend der Kunst der unterhaltsam gescheiten vergegenwärtigenden Durchdringung des Fern- und Beiseiteliegenden. Das er grandios zu Hauptsachen formt, wenn’s zum Exempel um die ewige Kunst des Vorlesens und Erzählens oder um die  ausgestorbene Kunst der Konversation (gegen das Gegenwartsmeinungsgeschwätz) geht. Seine Grundmelodie aber summt sich allüberall auf „La France“, seine Variationen streifen neben den schönsten Landschaften wie der Provence oder der Bretagne Figuren wie Balzac, Madame de Staël, Fragonard, Musset aber vor allen anderen. Und für keinen Satz, den der deutsche Besatzungssoldat zwischen 1940 und 1944 schreibt, musste er sich später schämen. Ein urdeutsches Glanzbeispiel undeutsch überlegener Weltläufigkeit. Eine wunderbare Wiederbegegnung mit einem Vergessenen.

Darmstädter Jury „Buch des Monats e.V.", Gerhard Stadelmaier

Ein junger Mann tritt sein Freiwilliges Soziales Jahr an, als Pfleger in der geschlossenen Abteilung einer Psychiatrie. Seine Beweggründe kann man ahnen, etwa als stillen Protest gegen die Art, wie in seinem Elternhaus über psychisch Kranke und eben jene Einrichtung gesprochen wird. Und überhaupt als Kritik an der Welt, in der er sich bewegt.

Markus Berges, Sänger und Texter der Band „Erdmöbel“, nimmt in seinem Roman „Irre Wolken“ die Perspektive eines Jugendlichen ein, der sich im Tschernobyl-Sommer 1986 in Anne verliebt, ausgerechnet eine Patientin der Klinik, in der er arbeitet. Dass und wie er daran wächst, die Regeln der Einrichtung zu hinterfragen, zeigt Berges in seinem überlegen komponierten Roman ebenso wie die Abgründe einer solchen Liebe. Denn der Erzähler weiß nie, in welchem Zustand er Anne treffen wird, welche Nähe sie will oder welche Distanz sie braucht und aggressiv einfordert. Er selbst macht in den Monaten, von denen er berichtet, eine Wandlung durch, innerlich wie äußerlich, und auch das Land, von dem er berichtet, ist nach Tschernobyl nicht mehr dasselbe.

Ein mit leichter Hand erzählter, abgründiger und immer wieder äußerst komischer Roman: das Buch des Monats Mai 2024 der Darmstädter Jury.

Darmstädter Jury „Buch des Monats e.V.", Tilman Spreckelsen

Kaum ein anderer lebender deutschsprachiger Autor beherrscht die Kunst überbordenden Erzählens so wie der Österreicher Michael Köhlmeier. In seinem neuesten, an Seitenzahlen vergleichsweise schmalen, indes atemberaubend spannenden und vergnüglichen Meisterwerk „Das Philosophenschiff“ geht ausgerechnet Wladimir Iljitsch Lenin, der die Initiative ergriffen hatte, auf solchen Schiffen Klassenfeinde, abtrünnige Dichter, Künstler, Intellektuelle und Konterrevolutionäre außer Landes verfrachten zu lassen, nach der Revolution gebrechlich an Leib und Seele, höchst selbst über Bord - Befehl seines Erben Josef Stalin. Das ist nur eine der irren Einfälle in einem Roman, in dem wilde Phantasie und historische Fakten eine formvollendete Einheit bilden. Sprachlich virtuos wird das Ganze aus der Feder eines fiktiven Schriftstellers namens Michael erzählt. Eine Art Auftragswerk im Namen einer (fiktiven) hundertjährigen, sehr anspruchsvollen jüdisch-russischen Architektin, die bei dessen Aufarbeitung ihres Exil-Schicksals genau das einfordert, was auch der Autor beherrscht: Ein Leben als Roman zu erzählen, Fiktion und Wirklichkeit so miteinander zu verschmelzen, dass sein Kern umso wahrhaftiger aufscheint.

Darmstädter Jury „Buch des Monats e.V.", Hajo Steinert

Der große, indes fern von den Zwängen des sogenannten Literarturbetriebs schreibende französische Dichter Julien Gracq (1910 – 2007) gibt in seinen unter dem Titel „Lebensknoten“ aus dem Nachlass erschienenen Notizen der rumorenden Welt etwas zurück, was sie längst verloren hat: Schönheit, Stille, Poesie, Sinnlichkeit und Wohlklang. Einen Wohlklang der Worte vor allem, die sich in diesem schmalen, aber umso kostbareren Bändchen mit Reisebeschreibungen, auch Reflexionen über das Schreiben an sich, aneinanderreihen wie Perlen an einer Schnur. 

Ob durch die Windschutzscheibe seines Automobils (auf Fahrten nie schneller als mit Tempo 30, wie es scheint), auf dem Fahrrad oder zu Fuß: an Straßenrändern, Ufern von Seen und Meeren, an Flussläufen (der Loire vor allem), in den Provinzen, Vorgärten, Wäldern, Wiesen und Dörfern sieht, ja erblickt er Dinge und Farben, hört er Geräusche, atmet er Gerüche ein, die der oberflächlich durch das Leben taumelnde Zeitgenosse kaum bemerkt. Und wie charmant sich Julien Gracq ganz nebenbei mit leuchtenden Liebeserklärungen vor seinen Kollegen verbeugt: Proust, Baudelaire, Verlaine, Breton, Valéry, Stevenson, Lichtfiguren der Literaturgeschichte wie Gracq selbst.

Darmstädter Jury „Buch des Monats e.V.", Hajo Steinert

Welch ein Kabinettstück: dem als dunkel, hermetisch und unnahbar geltenden Dichter Paul Celan eine umfassende Biographie in Bildern zu widmen, darunter vielfach bislang unbekannte Fotografien und Faksimiles aus Celans Nachlass. Die Abbildungen sind so informativ kommentiert, wie das vielleicht nur dem größten Kenner von Leben und Werk dieses Schriftstellers möglich war: Bertrand Badiou, dem Leiter der Paul-Celan-Arbeitsstelle der École normale supérieure in Paris, Herausgeber und Nachlassverwalter des Dichters. Mit diesem Buch muss das Celan-Bild neu justiert werden. War der Poet aus Czernowitz in der Öffentlichkeit oft mit der sein gesamtes Werk überstrahlenden „Todesfuge“ identifiziert worden, während die eingeschworene Celan-Gemeinde ihn als nur Eingeweihten zugänglichen Rufer aus der Tiefe begriff und die Postmodernen mit Celan ihr eigenes Spiel trieben, haben wir hier nun untrüglich einen Menschen aus Fleisch und Blut vor uns, der zwar sein Werk mit Ernsthaftigkeit und Arbeitseifer vorantrieb, aber zugleich – und insbesondere nach der Zeit der Shoah – von einem ungestümen Lebenshunger erfüllt war. In den fünfziger Jahren begegnen wir in Paris und anderswo einem gelösten, aufblühenden Paul Celan. Wir sehen ihn an der Seite seiner Frau Gisèle, gemeinsam mit Paul Demus oder rudernd mit Beda Allemann, dann wieder auf der Suche nach weiteren erotischen Abenteuern und Künstlerfreundschaften. Die Eintrübungen sind natürlich Teil auch dieser Biographie, von Celans Versuchen, die eigene Imago zu formen (durch die Kontrolle über die kursierenden Schriftstellerporträts) und selbst nach dem Tod beizubehalten (durch die weitgehende Sperrung des Nachlasses), über die Goll-Affäre und die Wahnanfälle bis hin zum Freitod im April 1970, aber sie überlagern erstmals nicht das Lichte dieses erregten, weiten, offenen Schriftstellerlebens, nicht zuletzt, weil die Bilder, mitunter Schnappschüsse, es mit der ihnen eigenen rhetorischen Kraft zur Geltung bringen. Ein Meilenstein – und das Buch des Monats Februar 2024 der Darmstädter Jury.

 

Darmstädter Jury „Buch des Monats e.V.", Oliver Jungen

„Mädchen“ werden sie von allen genannt: die Frauen in Darja Serenkos Geschichten aus Moskauer Büros. Sie verwalten inexistente Bestände und lassen abgesagte Veranstaltungen aus Programmkalendern verschwinden. Sie werden abgehört, angemacht, gemaßregelt, versetzt oder gekündigt oder von Schwermetallen aus der Lüftung vergiftet. Und sie machen mit, weil Mädchen das so machen. 

Die Autorin verschneidet eine Vielzahl realer Alltagserfahrungen namenloser Frauen in russischen Institutionen zu genauen, mal komischen, mal schrecklichen und letztlich ausnahmslos absurden Skizzen aus Putins Reich. Dieses Reich erscheint als Riese, dessen Füße so tönern sind, dass die kleinste Aufmüpfigkeit ebenso pompös sanktioniert werden muss wie der offene Protest gegen Repression und Krieg. 

Auch wenn es nicht bei jedem „Mädchen“ so hart kommt wie bei Serenko selbst, die wegen ihres im Original Ende 2021 erschienenen Buchs verhaftet wurde. Nach ihrer Entlassung, just am Vortag des russischen Überfalls auf die Ukraine, montierte sie ihre Notate aus der Gefängniszelle mit Selbstbefragungen zum eigenen Schreiben, zum Durchhalten unter den Bedingungen totalitärer patriarchaler Gewalt in Familie und Staat. Wann ist es Zeit, das Land zu verlassen, um den Preis der eigenen Sprache? Dieser Essay, der zweite Teil des Buchs, konnte in Russland nicht erscheinen. Heute lebt Darja Serenko in Georgien.

Darmstädter Jury „Buch des Monats e.V.", Julia Schröder

Buchempfehlungen aus Darmstadt

Seit 1952 trifft sich regelmäßig eine unabhängige Jury aus Schriftstellern, Journalisten und Literaturkritikern, um aus der Vielzahl der Neuerscheinungen ein Buch besonders hervorzuheben, dessen literarische Qualität es verdient, öffentliche Aufmerksamkeit zu erzeugen.

 

Institutionelle Basis für die ehrenamtliche Arbeit der Darmstädter Jury ist der Verein "Buch des Monats", der am 4. Oktober 1957 von den Gründungsmitgliedern und Juroren Editha Beckmann, Karl Friedrich Borée, Bernhard von Bretano, Kasimir Edschmid, Rudolf Goldschmidt, Ernst Johann, Heinz-Winfried Sabais, Hans-Joachim Sperr, Franz Thiess, Hermann Trog und Fritz Usinger nach fünfjähriger Jurytätigkeit ins Leben gerufen wurde.

 

Ihre Aufgabe sieht die Jury vor allem darin, belletristische Bücher auszuwählen, die eine besondere Aufmerksamkeit verdienen. Mit der Auszeichnung „Buch des Monats“ soll diesen Büchern zu einer größeren Verbreitung verholfen werden. Dabei fällt die Wahl nicht unbedingt auf literarische Bestseller. Es sind eher die stilleren Büchern, die den Juroren besonders auffallen. Manches Buch wird durch die Auszeichnung „Buch des Monats“ erst erfolgreich. Nicht Trends bestimmen das Votum, es ist allein die literarische Qualität.

 

Jurymitglieder: Peter Benz, Kurt Drawert, Oliver Jungen, Hanne F. Juritz, Adrienne Schneider, Julia Schröder, Dr. Tilman Spreckelsen, Dr. Gerhard Stadelmaier, Dr. Hajo Steinert, Beate Tröger, Wolfgang Werth.

Kontakt zur Geschäftsstelle “Buch des Monats” über buchdesmonats@hotmail.com